Ob das Model Mathilda Gvarliani weiß, was sie da unterschrieben hat? Die Schöne ist eine von insgesamt 30 Berufskolleginnen, von denen der Modehändler H&M mittels Künstlicher Intelligenz (KI) einen digitalen Zwilling geschaffen hat. Gvarliani hat alle dem zugestimmt, ohne ihr Einverständnis wäre das Ebenbild aus Zahlen und Daten nicht entstanden.
Für H&M ist das Ganze ein riesiges ökonomisches und soziales, gesellschaftspolitisches Experiment. Vor allem aber eine gewaltige Marketing-Aktion, die sich weltweit bestens verkaufen lässt. „Wir entdecken, wie Technologie neue Wege eröffnen kann, um unser Design auf innovative Weise zu präsentieren”, postet dazu Jörgen Andersson, Chief Creative Officer von H&M auf LinkedIn. „Die Möglichkeiten sind nahezu unbegrenzt. Wir können Kreativität erforschen und verbessern, was uns und der gesamten Branche zugutekommt.“ Namhafte Medien rund um den Globus haben die Geschichte bereits aufgegriffen und darüber berichtet. Der schwedische Konzern musste dazu nicht einmal seine gut geölte PR-Maschinerie anwerfen, es genügte, einen Bericht auf der Branchenplattform „Business of Fashion“ zu lancieren.
Die Models haben nicht nur unterschrieben, dass der Modehändler einen Daten-Zwilling von ihnen in die Welt setzen darf, die Vereinbarung umfasst auch, dass die KI-Twins künftig für Motive von Werbekampagnen, für Social Media-Aktivitäten und ähnliches eingesetzt werden können. Allerdings bleiben sämtliche Rechte an ihren Digitalen Zwillingen bei den Models und angeblich entscheiden sie, ob sie persönlich zu einem Shooting erscheinen oder lieber ihren digitalen Klon zu dem Termin schicken. Sogar Honorare für die Auftritte der Daten-Schwestern sollen die Models kassieren.
Die Aktion sorgt für Schlagzeilen, nicht weil sich H&M damit in die mittlerweile lange Reihe von Unternehmen einreiht, die KI für ihre Marketing-Aktivitäten einsetzen, sondern weil es ein Ritt auf des Messers Schneide ist.
Die Models mögen alle Persönlichkeitsrechte behalten, sogar Honorare für nicht geleistete Aktivitäten kassieren – „Sie ist genau wie ich, nur ohne Jetlag“, kommentierte Gvarliani ein Bild ihres Digitalen-Zwillings für H&M. Die Auswirkungen dieser Aktion und des immer häufigeren Einsatzes von KI in diesem Segment betreffen nicht Gvarliani, Vilma Sjöberg oder eine andere ihrer 28 Kolleginnen. Die Konsequenzen werden an anderer Stelle, in anderen Branchen, bei anderen Menschen deutlich.
Je mehr KI eingesetzt wird, um künstliche Figuren zu generieren, umso weniger werden Stylisten:innen, Location-Scouts, Set-Designer:innen, Visagist:innen, diversen Assistent:innen und viele andere hilfreiche Geister gebraucht, die an den Sets herumschwirren. Bis zum Portier am Set-Eingang, dem Putzpersonal und dem Taxifahrer, der die Models an die Location bringt, sind viele Menschen von dieser Entwicklung betroffen. Selbst die Fotograf:innen sind in ihrer Existenz gefährdet.
Sogar die Models lassen sich ersetzen. Vielleicht nicht, wenn sie Gvarliani heißen oder einen anderen der klingenden Namen der Zunft tragen. Noch nicht. Aber all die anderen namenlosen Kohorten, die noch in Katalogen, Prospekten, Flugblättern sowie kleinen, unspektakulären Werbekampagnen und natürlich auch in Massen auf den digitalen Plattformen zu sehen sind. Sie werden ihren Job verlieren, weil diese Berufsfelder schlicht und einfach verschwinden. Jedes Gesicht, jeder Charakter, jeder Typ lässt sich mit KI längste einfacher, rascher und vor allem kostengünstiger erschaffen, als der Einsatz von realen Menschen kostet.
Die gesamte Marketing- und Werbebranche befindet sich dank der KI mittlerweile in einem riesigen Kommunikationsexperiment, dessen Auswirkungen und Folgen sich teileweise schon ziemlich deutlich am Horizont abzeichnen.