Herr Haberzettl, Sie werden von Karin Seywald-Czihak, der Geschäftsführerin der ÖBB Werbung, als „Langenscheidt Wörterbuch ÖBB – Agentur/Agentur – ÖBB“ bezeichnet. Was wollte Sie damit konkret sagen?
Helge Haberzettl: Eine meiner Aufgaben ist, zwischen der Welt der Kreativagenturen und dem Kosmos eines großen Konzerns mit vielen Stakeholdern und noch mehr Regeln zu vermitteln. Eben wie ein kreativer Dolmetscher. Nach beinahe 30 Jahren in unterschiedlichen Werbeagenturen aller Größen und Strukturen darf ich eines behaupten: Ich spreche fließend ‚Agentur‘. Und ‚ÖBB‘ kann ich nach einem halben Jahr bei der ÖBB Werbung schon ganz passabel, wenn auch noch mit starkem Akzent. So bin ich ein Sprachrohr für die Agentur, das sich intern dafür einsetzt, dass die Aufgaben und Briefings spannend und vor allem lösbar sind. Und umgekehrt erkenne ich, was eine gute Idee ist. Und was nicht.
Sie sind seit Juli 2022 Creative Director der ÖBB Werbung. Aus welchem Grund braucht ein Unternehmen wie die ÖBB bzw. deren Inhouse-Agentur einen Kreativdirektor?
Haberzettl: Das ist eine gute Frage. Und manche meiner 42.000 ArbeitskollegInnen werden sich sicher denken, jeder Werbefuzzi ist ein Werbefuzzi zu viel. Nun, ich finde: Gute Werbung sollte stets so sein wie ein Heiratsantrag – alles andere ist Reklame. Die deutsche Sprache hat uns da eh eine schöne Rutsche gelegt: Mann oder Frau wirbt um die Gunst seiner/ihres Angebeteten. Und Unternehmen werben um die Gunst der KonsumentInnen. Beides funktioniert genau gleich: Ich muss mir ein bisserl Mühe geben, nicht komplett langweilig zu sein. Sollte Humor haben und auch über mich selber lachen können. Ich muss sowohl ein guter Zuhörer als auch ein guter Unterhalter sein und ich darf nicht schwindeln. Nur so habe ich die Chance, ein Herz zu erobern. Die ÖBB bemühen sich sehr um das Herz ihrer Fahrgäste. Auch in der Kommunikation stecken viel echtes Herzblut und unglaubliches Engagement. Wir schwindeln nicht: Die ÖBB ist eines der wenigen Unternehmen, die gar kein Green-Washing betreiben können, denn alle unsere Produkte behaupten nicht Klimaschutz, sondern sind Klimaschutz. Wenn ich jetzt noch dazu beitragen kann, dass ein Hauch Humor, eine Spur Selbstironie und die eine oder andere freche Ansage dazukommen, dann wird aus einem Flirt zwischen den ÖBB und ihren Fahrgästen zunächst vielleicht ein Pantscherl und später, wer weiß, sogar ein ernste, dauerhafte Liebesbeziehung. Und dann ist das diesen einen Werbefuzzi allemal wert.
Welche konkreten Aufgaben haben Sie in Ihrer Position?
Haberzettl: Zunächst: Es gibt ein Corporate Design, an das sich alle innerhalb des Unternehmens halten müssen. Man hat mir gesagt, dass ich das hüten soll wie meinen Augapfel, und das versuche ich zu tun. Meine zweite Aufgabe liegt darin, Kommunikationslösungen zu finden und dabei neue Wege zu beschreiten. Unser 100 Jahre ÖBB Jubiläums-Railjet beispielsweise war einer meiner ersten Aufträge: „Bekleb bitte einen ganzen Railjet (eine Lok und sieben Wagen), sag dabei ‚100 Jahre‘ aber rekrutier damit bitteschön neue MitarbeiterInnen, weil nur zum Feiern geben wir dafür kein Geld aus.“ Daran hab ich lange gekiefelt, die Lösung hat letztendlich so ausgesehen, dass wir unter dem Motto „100 Jahre – 100 Gründe, bei den ÖBB zu arbeiten“ den ganzen Zug mit 100 echten Zitaten von echten MitarbeiterInnen zugeklebt haben, die alle sagen, warum sie gerne hier arbeiten. Und der neue Weg war, dass wir erstmals bei einem Zugbranding zwei verschiedene Betrachtungsebenen genutzt haben. Bisher zielten alle Beklebungen auf den Zug als Ganzes, der eine riesengroße Botschaft in die Landschaft setzt. Dabei sehen wir einen Railjet wesentlich öfter aus 50 Zentimetern als aus 45 Metern Entfernung, nämlich am Bahnsteig beim Ein- und Aussteigen. Und genau dieser Insight hat es erst möglich gemacht, wirklich 100 Gründe auf einen Zug zu bringen – denn das macht ungefähr sieben Zitate pro Wagen pro Seite.
Wie beschreiben Sie Ihr Team bei der ÖBB Werbung?
Haberzettl: Es ist klein, aber schlagkräftig. Und ich bin heilfroh, dass ich es habe. Ich komme ja von der Textseite – in meinem Team sitzen ausnahmslos MitarbeiterInnen aus dem Artbereich. Ich bin also einerseits eine sinnvolle Ergänzung zu ihnen und andererseits kann ich eigentlich nur durch sie meine Aufgabe als Hüter des Corporate Designs wahrnehmen. Was mich besonders freut, ist dass wir ziemlich bald begonnen haben, auch Aufgaben, die bisher extern vergeben wurden, intern zu stemmen.
Welche kurz- und langfristigen Ziele haben Sie sich gesetzt?
Haberzettl: Ich bin überzeugt davon, dass mich meine zwei Töchter schon bald fragen werden, was ich eigentlich gegen die Klimakatastrophe getan habe. Und jetzt kann ich ihnen endlich eine gute Antwort geben: Wenn ich meinen Job gut mache, fahren mehr Menschen mit Bahn und Bus. Das macht meinen Job zum geilsten Job der Welt. Zu einem Job mit Sinn. Das war der Grund, warum ich mich beworben habe. Und nichts anderes ist auch mein größtes Ziel. Mittelfristig möchte ich die Welt da draußen davon überzeugen, dass das Argument „ich bin aber auf das Auto angewiesen“ immer weniger zählt. Das sage ich nicht als urbaner Bobo. Das sage ich als Schwager eines Kerls, der täglich 200 Kilometer pendelt – mit Klimaticket, Bus und Bahn und glücklich und zufrieden Netflix schaut, statt auf der B68, A2, A9 und S35 herumzukurven. Langfristig ist natürlich mein wichtigstes Ziel, das ich meine Dienstnummer auswendig aufsagen kann, ohne vorher auf meinen ÖBB-Ausweis schauen zu müssen. (lacht)
Sie haben Zeit Ihres Lebens in kleineren und größeren Agenturen gearbeitet. Welche Learnings aus ihrer bisherigen Karriere helfen Ihnen in der aktuellen Position am meisten?
Haberzettl: Zunächst: Ich bin ja immer noch in einer Agentur – der ÖBB Werbung. Das heißt alle meine Erfahrungen bis jetzt wende ich einfach weiter an, wenn wir für unsere internen AuftraggeberInnen Ideen erarbeiten. Und im Umgang mit unseren externen PartnerInnen gibt es zwei Punkte: Ich kann eine Idee erkennen und von glitzernder Reklame unterscheiden. Ich habe Kritik immer inhaltlich und nie geschmäcklerisch begründet, und genauso erwarte ich mir auch Vorschläge, die inhaltlich punkten. Durch einen strategischen Kern, einen überzeugenden Insight, eine überraschende Umsetzung. Und: ich stand in meiner Agenturzeit oft vor Aufgaben, die inspirierend waren. Und vor solchen, die es absolut nicht waren. Es ist wie beim Gemüsebauern. Je größer das Feld und je länger die Zeit, desto größer ist die Chance auf eine Monsterkarotte. Ich möchte der sein, der dieses Feld optimal vorbereiten hilft.