Auf der DMEXCO wurde schnell deutlich, dass Künstliche Intelligenz (KI) ein bedeutendes Thema ist, dem sich alle widmen. Wie ist Ihre Meinung zu KI?
Tom Peruzzi: Der Einsatz von KI wird das digitale Marketing verändern. Als Adtech-Anbieter nutzen wir bei Virtual Minds schon lange anspruchsvolle Mathematik und Machine Learning (ML), da die Plattformen dies erfordern. Für uns ist KI also nur eine Weiterentwicklung und der nächste Schritt. In der Verwaltung einer Data-Management-Plattform bewegen wir uns automatisch nahe an Machine Learning und KI. Ein gutes Beispiel dafür ist „look-alike modeling”. Jetzt wird das Thema Machine Learning und KI auch bei der Profilbildung relevant, um beispielsweise einen Identifier probabilistisch zu erstellen. Mit dem schwindenden Zugang zu Third Party Cookies gewinnt dies an Bedeutung. Wir können solche ML-basierten Identifier technisch umsetzen, doch die Marktakzeptanz ist eine andere Frage. Letztendlich entscheiden Agenturen, Werbetreibende und Publisher darüber, welche Identity-Ansätze am attraktivsten sind. Nun zu KI im Bereich der Werbemittel: Werbemittel liegen per se zwar nicht in unserem Fokus, aber wir stellen weitgehend automatisiert sicher, dass Werbemittel und Kampagnen korrekt ausgespielt, gemessen und reportet werden. Dennoch ist die effiziente Erstellung von kreativem werblichem Content mithilfe von KI zweifellos ein wichtiges Thema. Die Nutzung von KI in der Softwareentwicklung wirft rechtliche Herausforderungen, wie Fragen des Datenschutzes, des Urheberrechts etc. aufgrund unserer europäischen Herkunft auf. Wir verwenden Software-as-a-Service-Angebote (Marktlösungen) im Bereich KI, insbesondere zur Codegenerierung im Frontend-Bereich. Außerdem findet KI auch in der Kampagnenaussteuerung ihren Einsatz: Die Auswahl der Algorithmen auf der Demand und Supply Side beeinflusst maßgeblich, warum ein Nutzer für einen Werbekontakt ausgewählt wird – oder nicht. Während es auf der Supply Side um die Optimierung des Ertragsmanagements geht, geht es auf der Demand Side darum, mit gegebenen Ressourcen – dem Budget – optimale Kampagnenergebnisse zu erzielen. Schließlich das Thema KI und Kontextklassifizierung: Wir ordnen Kontakte im Hinblick auf beispielsweise Werbewirksamkeit und Umfeld ein, wobei wir versuchen, so präzise wie möglich, aber auch maximalst kosteneffizient zu sein. Hierbei gibt es einen gewissen Trade-Off zu einem anderen Trend, dem Thema Nachhaltigkeit, da KI umfänglich Ressourcen wie CPU-Zyklen und Speicher beansprucht.
Sie haben bereits Datenschutz angesprochen, ein wichtiges Thema. Wie stellt Virtual Minds sicher, dass die Nutzung von Daten den Datenschutzbestimmungen und ethischen Grundsätzen entspricht?
Peruzzi: Datenschutz hat bei uns schon immer einen hohen Stellenwert gehabt und wird das auch in Zukunft haben. Wir legen großen Wert auf Ansätze wie Privacy by Design und Security by Design (Datenschutz und Datensicherheit durch Technik) bei der Entwicklung unserer Lösungen. Außerdem achten wir auf Datensparsamkeit, und unsere Datenhaltung erfolgt ausschließlich in Deutschland und auf Servern deutscher Hostinganbieter. Das hat den Vorteil, dass transatlantische Datenschutzabkommen mit ihren speziellen Datenschutzanforderungen für uns in der Regel nicht zur Anwendung kommen. Bei der Entwicklung von Algorithmen, die mit personenbezogenen Daten in Berührung kommen, ziehen wir Datenschutzexperten hinzu. Interessanterweise zeigt sich, dass bereits geringfügige Unschärfen bei zum Beispiel der Targetinggenauigkeit zu großen Fortschritten in Sachen Nutzerfreundlichkeit und Datenschutz führen können. Dies ist ein herausfordernder Prozess. Mein Aufgabenfeld bewegt sich daher oft stärker im Bereich Daten- und Verbraucherschutz als in technischen Diskussionen.
Und wie sehen Sie die Rolle von KI bei der Bewältigung der wachsenden Komplexität und des ständigen Wandels in der digitalen Werbelandschaft? Und die generellen Konsequenzen davon?
Peruzzi: Der Reifegrad der Werbelandschaft und die damit einhergehende Komplexität sind sehr hoch. Ich glaube, dass mit dem zunehmenden Einsatz von KI die Komplexität über die nächsten Jahre hinweg zunächst erst einmal zunehmen wird. Das gilt für alle Bereiche: Solange KI nicht vollständig integriert ist, erzeugt sie erst einmal einen zusätzlichen Grad an Komplexität. Je integrierter KI ist, desto weniger aufwändig und kompliziert werden die Prozessabläufe sein. Aber ich glaube, dass man das Bild dieser Vereinfachung frühestens in 2025 sehen wird.
Welche Branchen- oder Markttrends sieht Virtual Minds besonders relevant für digitales Marketing in der Zukunft?
Peruzzi: Ich bin der Überzeugung, dass das ganze Thema Künstliche Intelligenz für digitales Marketing generell super relevant ist. Ich glaube, dass die ganzen rechtlichen Verfahren rund um den Einsatz von Daten, die derzeit am Laufen sind, Auswirkungen darauf haben werden, wie in Zukunft digitales Marketing gestaltet werden kann. Und ich glaube daran, dass die EU künftig deutlich aktiver und nachdrücklicher gegen die Art und Weise, wie globale Konzerne Datenschutz und Verbraucherschutz interpretieren, rechtlich vorgehen wird und dass das am Ende erhebliche Auswirkungen auf das digitale Marketing haben wird.
Glauben Sie, dass jetzt gerade wir als Marketingstudenten gefährdet sind durch KI? Oder glauben Sie, dass wir trotzdem keine Bedenken haben müssen wegen unserem zukünftigen Job?
Peruzzi: In einem kürzlich erschienenen Interview in „Brand Eins” hat ein Ökonom dies sehr treffend beleuchtet: Während viele Handgriffe in Fabriken schon längst durch Maschinen und Computer ersetzt worden sind, glaubten sich klassische white collar worker (Angestellte mit vornehmlich Bürojobs) bislang davor gefeit. KI ändert das. Berufe, die viel mit Daten zu tun haben und großes Maschinierungspotenzial aufweisen, werden davon mehr betroffen sein, kreative oder soziale Berufe weniger. Besonders im Bereich der generativen KI und großen Sprachmodelle können uns entsprechende Technologien Standardaufgaben abnehmen, für die der Mensch weniger geeignet ist und anfangs auch gar nicht gedacht wurde. Grundsätzlich kann KI eine Chance sein, wenn die damit einhergehende Veränderung positiv ist (z.B. Entlastung von aufwändigen und anstrengenden Routinetätigkeiten). Problematisch wird es allerdings regelmäßig dann, wenn über Veränderungen nicht gesprochen und der eigene Job plötzlich von einer KI ersetzt wird. Zudem hege ich noch zwei Überzeugungen: Erstens sollte Europa auch beim Thema KI nicht in die Abhängigkeit anderer Player geraten, wie es leider gerade geschieht. Und: Wir müssen die Methoden, die Mathematik und die betriebswirtschaftlichen Aspekte verstehen, um beurteilen zu können, ob KI uns tatsächlich nützt oder schadet.
Internet World Austria berichtet in Zusammenarbeit mit dem Studiengang Marketing und Kommunikation der FH St. Pölten. Dieses Interview wurde von Alina Berthold und Verena Jetschko geführt.